Koepf's EditionsWritings – Zu Messiaens "Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit"

Zu Messiaens "Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit"

Siegfried Koepf, Mai 2003

1. Einführung

In seinem Buch Technique de mon langage musical(1) führt Olivier Messiaen 1944 die inzwischen berühmt gewordenen und viel zitierten "Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit" ein. Sie sollen hier noch einmal wiedergegeben werden (Tonleitern werden hier als Folge von Intervallen dargestellt, wobei 1 kleine Sekund, 2 große Sekund, 3 kleine Terz etc. aufsteigend bedeuten):

1. Modus: 2 2 2 2 2 2
2. Modus: 1 2 1 2 1 2 1 2
3. Modus: 2 1 1 2 1 1 2 1 1
4. Modus: 1 1 3 1 1 1 3 1
5. Modus: 1 4 1 1 4 1
6. Modus: 2 2 1 1 2 2 1 1
7. Modus: 1 1 1 2 1 1 1 1 2 1

Im ersten Abschnitt des betreffenden Kapitels XVI postuliert Messiaen: "Die Reihe dieser Modi ist abgeschlossen. Es ist mathematisch unmöglich, noch andere zu finden..." (S. 56). Diese Worte laden förmlich dazu ein, einmal überprüft zu werden. Darum soll der Sachverhalt hier einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

2. Untersuchung

Zunächst wird bei Messiaen nicht hinreichend geklärt, unter welchen Voraussetzungen eine Tonleiter in die "Reihe dieser Modi" gehört. Folgende Eigenschaften ergeben sich aus dem Text recht eindeutig: 1. die Bedingung der begrenzten Transpositionsmöglichkeit und 2. die Tonleitern sind zyklisch, das heißt, dass sich ihre Intervallfolge im Abstand von einer Oktav virtuell unendlich nach beiden Seiten wiederholt. Unklar dagegen bleibt einerseits, aus wieviel Tönen die Modi bestehen sollen beziehungsweise dürfen und andererseits, ob ein Modus eine Teilmenge eines anderen sein darf oder nicht. Da sich zur ersten Frage in Messiaens Text keine Hinweise finden, muss man davon ausgehen, dass es hier keine Beschränkung gibt. Wir wollen nun untersuchen, welche Schlüsse sich aus Messiaens Umgang mit dem Material im Bezug auf die zweite, die Teilmengenfrage ziehen lassen.

Die chromatische Tonleiter 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 wird als "unser derzeitiges chromatisches System" (S. 56) eingeführt, aber als Obermenge betrachtet und nicht zu den Modi gezählt. Die Strukturen 6 6 (S. 59), 4 4 4 (S. 58), 3 3 3 3 (S. 57) werden von Messiaen zwar erwähnt, er zählt sie jedoch nicht zu seinen Modi, offenbar weil er sie als Teilmengen anderer Modi betrachtet, oder weil er sie nicht als Modi, sondern als Akkorde behandelt, ohne allerdings eine solche Abgrenzung zu begründen. Alle diese Leitern sind jedoch strukturell mit Messiaens 1. Modus vergleichbar, was beispielsweise Hermann Erpf bereits 1927 korrekt darstellte(2).

Messiaen erwähnt weitere Leitern, die er ausdrücklich mit dem Argument zurückweist, Teilmenge eines anderen Modus zu sein. Er nennt 3 2 1 3 2 1 und 2 3 1 2 3 1 "unvollständige Modi 2" (S. 59) und 1 5 1 5 beziehungsweise 5 1 5 1 "unvollständige Modi 5" (S. 60). Dieses Argument hat aber zwei entscheidende Schwächen. Denn erstens, obwohl auch die Leiter 1 4 1 1 4 1 Teilmenge eines anderen Modus (des 4. Modus) ist, wie Messiaen selbst ausführt, räumt er ihr "das Recht" ein, "hier zu stehen", nimmt sie als 5. Modus in seine Liste auf und rechtfertigt dies mit der Tatsache, dass sie eine bevorzugte "melodische Formel" und einen "Quartenakkord hervorbringt" (S. 60). Zweitens aber bestehen ähnliche Beziehungen auch zwischen den anderen Modi. Denn gemäß Messiaens Terminologie sind

der 1. Modus unvollständiger 3. Modus, 6. Modus und 7. Modus (2. Stufe),
der 2. Modus unvollständiger 7. Modus (3. Stufe),
der 4. Modus unvollständiger 7. Modus,
der 5. Modus unvollständiger 4. Modus, 6. Modus (4. Stufe) und 7. Modus,
der 6. Modus unvollständiger 7. Modus (2. Stufe).

Wie man sieht, sind, abgesehen vom dritten und siebten, alle Modi Teilmengen zumindest eines anderen und somit kann dieses Argument innerhalb des Messiaenschen Systems nicht als verbindliches Ausschlußkriterium verstanden werden.

Man kommt zu dem Schluss, dass unter "Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit" alle Leitern mit folgenden Eigenschaften zu verstehen sind: 1. ihr Ambitus ist eine Oktav und sie sind zyklisch im Bezug auf eine Oktav, 2. sie sind translationssymmetrisch, das heißt, es gibt mindestens eine Verschiebungskonstante < 12, die Teiler von 12 (der Oktav) ist und die Intervallstruktur der Leiter mit sich selbst zur Deckung bringt und daraus ergibt sich 3. sie bestehen aus mindestens zwei Tönen(3).

Mathematisch ließe sich dieses Problem beispielsweise als Permutationen der Partitionen der Zahlen 6 und 4 darstellen. Eine entsprechende Formalisierung kann hier aber übersprungen werden, da sich diese Leitern auch ohne mathematische Spezialkenntnisse einfach aufzählen lassen. Interessierte Leser seien an die Fachliteratur zur Kombinatorik(4), beziehungsweise zur Mathematik der Ornamente(5) verwiesen.

3. Fazit

Dies sind die 38 Leitern, die die genannten Voraussetzungen erfüllen, jeweils nach Anzahl der Stufen lexikographisch geordnet als Skalen mit ihren Umkehrungen:

Translationssymmetrische Skalen im Tonumfang einer Oktav
[N]IntervallfolgeStatus bei Messiaen
[1,0]6 6erwähnt

[2,0]4 4 4erwähnt

[3,0]1 5 1 5unvollständiger 5. Modus
[3,1]  5 1 5 1unvollständiger 5. Modus

[4,0]2 4 2 4nicht erwähnt
[4,1]  4 2 4 2nicht erwähnt

[5,0]3 3 3 3erwähnt

[6,0]1 1 4 1 1 45. Modus 2. Umkehrung
[6,1]  1 4 1 1 4 15. Modus
[6,2]    4 1 1 4 1 15. Modus 1. Umkehrung

[7,0]1 2 3 1 2 3unvollständiger 2. Modus
[7,1]  2 3 1 2 3 1unvollständiger 2. Modus
[7,2]    3 1 2 3 1 2unvollständiger 2. Modus

[8,0]1 3 1 3 1 3nicht erwähnt
[8,1]  3 1 3 1 3 1nicht erwähnt

[9,0]1 3 2 1 3 2unvollständiger 2. Modus
[9,1]  3 2 1 3 2 1unvollständiger 2. Modus
[9,2]    2 1 3 2 1 3unvollständiger 2. Modus

[10,0]2 2 2 2 2 21. Modus

[11,0]1 1 1 3 1 1 1 34. Modus 3. Umkehrung
[11,1]  1 1 3 1 1 1 3 14. Modus
[11,2]    1 3 1 1 1 3 1 14. Modus 1. Umkehrung
[11,3]      3 1 1 1 3 1 1 14. Modus 2. Umkehrung

[12,0]1 1 2 2 1 1 2 26. Modus 2. Umkehrung
[12,1]  1 2 2 1 1 2 2 16. Modus 3. Umkehrung
[12,2]    2 2 1 1 2 2 1 16. Modus
[12,3]      2 1 1 2 2 1 1 26. Modus 1. Umkehrung

[13,0]1 2 1 2 1 2 1 22. Modus
[13,1]  2 1 2 1 2 1 2 12. Modus 1. Umkehrung

[14,0]1 1 2 1 1 2 1 1 23. Modus 1. Umkehrung
[14,1]  1 2 1 1 2 1 1 2 13. Modus 2. Umkehrung
[14,2]    2 1 1 2 1 1 2 1 13. Modus

[15,0]1 1 1 1 2 1 1 1 1 27. Modus 4. Umkehrung
[15,1]  1 1 1 2 1 1 1 1 2 17. Modus
[15,2]    1 1 2 1 1 1 1 2 1 17. Modus 1. Umkehrung
[15,3]      1 2 1 1 1 1 2 1 1 17. Modus 2. Umkehrung
[15,4]        2 1 1 1 1 2 1 1 1 17. Modus 3. Umkehrung

[16,0]1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1 1erwähnt

Es gibt ganz offensichtlich 16 "Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit", von denen Messiaen sieben nur erwähnt, sieben zu seinen Modi zählt und zwei erstaunlicherweise übersieht.

Die Bewertung beziehungsweise der Gebrauch eines solchen Materials bleibt natürlich immer dem einzelnen Komponisten überlassen, ein Recht, von dem Messiaen wie allerdings auch zahlreiche andere bedeutende Komponisten des 19. und 20. Jahrhunderts(6) Gebrauch gemacht hat. Ob es dazu seiner doch ziemlich unvollständigen "Theorie der Modi mit begrenzter Transpositionsmöglichkeit" (S. 56) bedurfte, ist eine andere Frage.

(1) Der vorliegende Text und die Seitenzahlen in Klammern beziehen sich auf die deutsche Ausgabe, Olivier Messiaen: Technik meiner musikalischen Sprache. Paris 1966, S. 56-61.

(2) Hermann Erpf: Studien zur Harmonie- und Klangtechnik der neueren Musik. Wiesbaden 1996, S. 72-76.

(3) zum Begriff Translationssymmetrie siehe z.B. Hermann Weyl: Symmetrie. Basel/Stuttgart 1981.

(4) siehe z.B. Max Jeger: Einführung in die Kombinatorik. Stuttgart 1973.

(5) siehe z.B. Jürgen Flachsmeyer et al.: Mathematik und ornamentale Kunstformen. Frankfurt a.M. 1990.

(6) siehe z.B. Jurij N. Cholopov: Symmetrische Leitern in der russischen Musik. In: Die Musikforschung 28. Jg. 1975, S. 379-407.

Erschienen in: Organ - Journal für die Orgel, Heft 4/2008, S. 24-27.