Von der Tonleiter zur Indexmenge
Siegfried Koepf, 1997/1999
1.
Aristoxenos sagt: "Der grösste Irrthum also und verkehrteste ist, die natürliche Beschaffenheit der Harmonik auf ein Instrument zurückzuführen; keins nämlich von den in den Instrumenten vorhandenen Dingen ist die Ursache, dass die harmonische Composition so ist oder eine solche Ordnung bewahrt; denn nicht darum weil die Flöte Bohrlöcher und Höhlungen und die übrigen Eigenthümlichkeiten der Art hat, und weil der Flötenbläser eine Technik besitzt [...] bildet die Quarte oder Quinte oder Octave eine Consonanz oder erhält ein jedes der anderen Intervalle seinen gehörigen Umfang."(1)
Traditionell versteht man unter einem Tonsystem einen Komplex von Begriffen, Regeln und Operationen, die sich auf Töne beziehen.
Dabei werden Töne als Konstanten (das heißt: als verlässlich) vorausgesetzt oder definiert und zwar mit zahlenmystischen, hörtheoretischen, meistens aber physikalischen Sprechweisen.
Je zentraler der Konstanzaspekt in der Argumentation wird, desto mehr kommt die Physik (im helmholtzschen Sinn) ins Spiel, ihre Möglichkeit, Aussagen über Materialien und deren Eigenschaften zu machen (physikalische Eigenschaften nämlich). Die physikalische Leistung besteht dann genau darin, physikalische Äquivalente und damit eine Beschreibungsstrategie für musikalische Phänomene zunächst für Töne und daraus resultierend für Intervalle usw. zu liefern. Gerade diese Konstanz der zu beobachtenden Gegenstände wird aber von der moderneren Physik bestritten.
Obwohl Tonsystemtheorien im allgemeinen ihre Unterschiedenheit im Verhältnis zu anderen Tonsystemtheorien betonen (beispielsweise in Form von Innovation oder Kritik), gibt es einen Aspekt, den zumindest die meisten miteinander gemeinsam haben: Es ist das Interesse an einer möglichst allgemeingültigen, und das heißt: einer möglichst universell begründeten Theorie.
Euklid sagt: "Wenn nur Ruhe wäre und Unbewegtheit, so wäre Stille. Wenn aber Stille wäre und nichts sich bewegen würde, so würde man auch nichts hören. Wenn man also etwas hören will, so muss vorher Anschlag und Bewegung stattfinden.
Da nun alle Töne durch einen Anschlag entstehen, ein Anschlag aber ohne vorangegangene Bewegung unmöglich ist, von den Bewegungen aber die einen dichter, die anderen seltener aufeinander folgen – und die dichter aufeinander folgenden die Töne hoch, die anderen dagegen tief machen -, so werden die einen Töne notwendig höher sein, weil sie aus dicht aufeinanderfolgenden zahlreicheren Bewegungen zusammengesetzt sind, die anderen aber tiefer, weil sie aus selteneren und minder zahlreichen Bewegungen bestehen.
Ist ein Ton zu hoch, so wird er nachgelassen, d. h. durch Wegnehmen von Bewegung erreicht er die richtige Höhe. Ist er zu tief, so wird er stärker angespannt, d. h. der Ton erreicht durch Zusetzen von Bewegung die richtige Höhe.
Aus diesem Grunde muss man sagen, dass die Töne aus Teilen zusammengesetzt sind, da sie durch Zusetzen und Wegnehmen das richtige Maß erreichen. Alles, was aus Teilen zusammengesetzt ist, verhält sich aber zueinander wie ganze Zahlen, also müssen notwendig auch die Töne sich wie ganze Zahlen verhalten."(2)
Während also Aristoxenos den universellen Status seiner Theorie über einen Naturbegriff, nämlich "die natürliche Beschaffenheit der Harmonik" herleitet, postuliert Euklid (in pythagoreischer Tradition) die Allgemeingültigkeit seines Modells mit Hilfe von umfassenden All-Begriffen: "Alles, was aus Teilen zusammengesetzt ist, verhält sich aber zueinander wie ganze Zahlen".
Offensichtlich geht es in diesen und ähnlichen Theorien (auch wenn sie aus den letzten Jahrhunderten stammen) regelmäßig um den Wunsch, den Gegenstand absolut in den Griff zu bekommen, ihn maximal und möglichst endgültig kontrollieren zu können.
Die Legitimität, aber auch die Zweckmäßigkeit eines solchen tendenziell totalisierenden Vorgehens scheinen mir zumindest fraglich.
Totalisierende Tonsysteme eignen sich natürlich am besten für totalisierende Musikproduktionen, -Situationen und -Diskurse.
2.
Dem können (müssen) die folgenden Überlegungen entgegengesetzt werden:
Man kann sich einen Komplex von Begriffen, Regeln und Operationen vorstellen, der sich auf zunächst beliebige Dinge bezieht. Es können (müssen aber nicht) im nachhinein diese "Dinge" als "Töne" definiert (bzw. bezeichnet) werden.
Diese Bedingung käme bestimmten Deklarationsstrategien entgegen, die sich in der Kunst des 20. Jh. ohnehin längst durchgesetzt haben (z. B. bei Duchamp, Cage, Tudor usw.).
Beliebige Dinge können entweder erfunden oder aus der Menge aller vorfindbaren Dinge ausgewählt werden. Eine solche Auswahl kann Dinge betreffen, die in historisch-tonsystematischem Sinn bereits prästrukturiert oder in diesem Sinn neutral sind. Diese Unterscheidungen können (müssen aber nicht) getroffen bzw. berücksichtigt werden.
Eine Auswahl zu treffen bedeutet immer auch Reduktion: in Form des Ausschlusses des Nichtausgewählten. Die Konzentration auf das Begründen der Auswahl, die aufgrund der wahrscheinlichen Unüberschaubarkeit des Rests auch legitim zu sein scheint, verleitet dazu, das Nichtausgewählte vom Bereich des Unübersichtlichen in den Bereich des Irrelevanten zu verlagern. Das Unübersichtliche wird tendenziell übersehen oder gegebenenfalls auch verurteilt.
Der Sinn, irgendwelche Dinge zunächst zuzulassen, besteht also darin, ihren eventuellen Ausschluss immer wieder neu beurteilen zu können (bzw. zu müssen).
Man kann (muss aber nicht) vereinbaren, dass die zur Auswahl stehenden Dinge mit hörbaren Ereignissen in Zusammenhang gebracht werden können.
Zunächst haben Tonsysteme immer potentiellen Charakter. Denn eine Auswahl zu treffen ist das eine, ihre kombinatorischen Möglichkeiten zu erschöpfen etwas anderes.
"Kombinatorik ist die Kunst oder die Wissenschaft, das Mögliche durch einschließende Disjunktionen auszuschöpfen."(3)
Legt man der Begründungsstrategie eine formale Sprache zugrunde, kann man an einen solchen Komplex von Begriffen, Regeln und Operationen die Bedingung stellen, aus formalisierbaren Sätzen, Aussagen usw. zu bestehen.
Formalisierte Darstellungsweisen ermöglichen die maschinelle Weiterverarbeitung des ausgewählten Materials und damit die Anwendung kombinatorischer Operationen auf größere Datenmengen.
Beispielsweise können ausgewählte Objekte in (geordneten) Mengen zusammengefasst und indiziert werden. Stellvertretend kann dann mit den entsprechenden Indexmengen weitergearbeitet werden.
Im Prinzip ist ein rein intuitives Vorgehen genauso legitim und in der Lage, so etwas wie ein Tonsystem zu konstituieren. Durch den intellektuellen Akt des Beschreibens wird die Sache diskursiv, das heißt bewusst. Durch den systematischen Akt des Begründens wird sie zur Theorie.
Intuitive Vorgehensweisen überspringen den Schritt der Theoriebildung, was nicht heisst, dass sie für diese nicht in Frage kämen. Sie sind aus der Sicht der Tonsystemtheorie latent und betonen insofern das Moment der Potentialität.
Die Zeiten sind (längst) vorbei, in denen man sich auf ein Tonsystem einigen konnte (wollte) und die Komponisten (Künstler) sich darauf beschränkten, sich mit dem einmal definierten Material herumzuschlagen.
Es geht also nicht um ein umfassendes ultimatives Tonsystem. Im Mittelpunkt auch systematischer bzw. organisierender Vorgehensweisen steht nicht, das Material zu besetzen, sondern es wieder freizulassen und damit zu rechnen, es in genau diesem Zustand auch anzutreffen.
(1) Marquart, Paul (Hrg.): Die harmonischen Fragmente des Aristoxenus, Berlin 1868, S. 61.
(2) Euklid: SECTIO CANONIS, dt. in: van der Waerden, B.L.: Die Pythagoreer, Zürich 1979, S. 382.
(3) Deleuze, Gilles: Erschöpft, in: Beckett, Samuel: Quadrat, Frankfurt a.M. 1996.
Erschienen in: Feedback Papers 42, 1999, ferner in: Komposition und Musikwissenschaft im Dialog, Hrg. Christoph von Blumröder and Imke Misch, Signale aus Köln, Vol. 3, Saarbrücken 1999