Die Fritsch-Akademie
Siegfried Koepf, Juli 2009
Einführung
Als ich gegen Ende der achtziger Jahre zuerst in Johannes Fritschs Seminare und wenig später in seine Kompositionsklasse kam, galt der sogenannte "Fritsch-Kreis" an der Kölner Musikhochschule als elitär und verschlossen. Es bedurfte schon eines gesunden Selbstbewusstseins, um da einmal anzuklopfen und zu fragen, ob man da mitmachen durfte. Wenn man dann aber erst einmal "drin" war, fühlte sich die Sache eigentlich ziemlich cool und gar nicht so unbescheiden an.
Anfang 1989 fragte ich Johannes Fritsch, ob ich bei ihm Komposition studieren könnte und er sagte: "Haben Sie denn eine Berufsausbildung?" Denn er wollte sich möglichst mit Leuten umgeben, deren Interesse an einem Kompositionsstudium frei von jeglichen kommerziellen Implikationen war. Da ich diese Forderung erfüllte, konnte es losgehen. Nach bestandener Aufnahmeprüfung sagte er zu mir: "Melden Sie sich, wenn Sie eine Frage haben oder wenn es etwas zu besprechen gibt. Ansonsten, kommen Sie zu unseren Klassentreffen, immer montags, 10.00 bis 13.00 Uhr." Das war's, Einzelunterricht gab es nur auf besondere Anfrage. Im Mittelpunkt stand die gemeinsame Arbeit in der Gruppe, montags exklusiv in der Kompositionsklasse und dienstags gab es immer zwei öffentliche Seminare, an deren Planung und Durchführung die Kompositionsklasse aber ebenfalls stark beteiligt war. Genau das konstituierte eben diese Fritsch-Clique. Wir konzipierten alles zusammen und wo Fritsch auftauchte, da waren immer auch ein, zwei seiner Studenten in der Nähe. Und obwohl diese Gruppe in Wirklichkeit sehr heterogen war und sich in ständiger Kontroverse befand, bildete sich in ihr eine Art Wir-Gefühl, eine Identität, die, vielleicht gerade weil die verschiedenen Persönlichkeiten sich in hohem Maße gegeneinander absetzten und profilierten, nach außen doch wieder homogen wirkte. Wir diskutierten und erkämpften uns unsere Themen, die wir dann erforschten, wir ersannen und realisierten gemeinsame Projekte und wir entwickelten unsere Positionen, die wir dann nach außen, notfalls auch gegen Widerstand, vertraten. Wir steckten unter einer Decke. Wir hatten unsere eigene kleine Akademie in der Akademie. Intern war das, zumindest für viele von uns, eine sehr intensive und durchaus produktive Atmosphäre, nach außen wirkte es wohl eher hermetisch und möglicherweise leicht inzestuös. Für mich war es eine gute Schule.
Interview mit Johannes Fritsch
Das folgende Gespräch mit Johannes Fritsch wurde am 10. Juli 2009 im Feedback Studio geführt.
Koepf: Kannst du die aus meiner Perspektive geschilderte Darstellung der damaligen Situation bestätigen oder würdest du das vielleicht ganz anders erzählen?
Fritsch: Ich habe es nicht ganz so hermetisch gesehen – aber ich würde das im Prinzip schon bestätigen.
Koepf: Dein ziemlich antiautoritärer Stil, oft mehr Moderator als Leiter der Runde, war das auch noch eine Reminiszenz an das allgemeine gesellschaftliche Milieu der siebziger Jahre?
Fritsch: Na ja, ich habe ja von 1971 an unterrichtet. Davor, das war reine Musiktheorie, die musste man autoritär machen am Konservatorium. Und in Darmstadt fing das an, dass ich Komposition unterrichtet habe und da allerdings etwas mehr Einzelunterricht gemacht habe als später in Köln. Warum, ist schwer zu sagen, weil ich das Gefühl hatte, die jungen Leute brauchen mehr Anleitung und dieses Gefühl hatte ich in Köln eigentlich nicht mehr, weil die mitgekommenen Studierenden, also Caspar Johannes Walter und Volker Staub, die ja in Darmstadt bei mir angefangen hatten, schon so weit waren, dass ich sie eigentlich nicht mehr führen musste. Und das hat sich dann auf die in Köln neu dazu gekommenen Studenten ein bisschen übertragen, dass ich auch relativ offen geblieben bin und gesagt habe: Wenn ihr irgend etwas zu fragen habt, dann bekommt ihr eine Stunde und wenn nichts Besonderes anliegt, dann besprechen wir alles nur in der Klasse.
Koepf: Ging es vielleicht auch um eine didaktische Abgrenzung zu den damals dominierenden Unterrichtsstrategien, zum Beispiel beim eher autoritären Stockhausen oder beim eher akribischen, Hausaufgaben gebenden Kagel?
Fritsch: Also wie Stockhausen unterrichtet hat, weiß ich gar nicht und ich habe auch nie daran teilgenommen. Von Kagel weiß ich, dass er Hausaufgaben gegeben hat, die zum Teil sehr skurril waren. Es gibt diese Erinnerungen von Moya Henderson, in denen sie das beschreibt. Die sind, glaube ich, sogar in den MusikTexten abgedruckt. Von Henze weiß ich auch nicht wie er unterrichtet hat. Von Krzysztof Meyer weiß ich, dass er so ein Lehrertyp ist, der auch ganz bestimmte Aufgaben gegeben hat.
Koepf: Also spielten diese Leute keine Rolle bei der Entwicklung deines eigenen Stils.
Fritsch: Nein.
Koepf: Sind vielleicht Momente deines eigenen Studiums bei Bernd Alois Zimmermann mit eingeflossen?
Fritsch: In meinem eigenen Studium bei Zimmermann hatte ich ja diese merkwürdige Erfahrung, dass er meine Stücke gelesen hat, schweigend, und nie etwas dazu gesagt hat, außer: Das machen wir im nächsten Klassenkonzert. Warum das so war und warum er nie spezielle Dinge angesprochen hat, habe ich nicht herausbekommen. Ob er das bei anderen auch so gemacht hat, ob es bei allen so ein stilles Lesen war, das weiß ich nicht.
Koepf: Dann war also deine Methode, dein Stil des Kompositionsunterrichts ein vollständig eigenes Konzept?
Fritsch: Es war kein Konzept. Es war einfach ein Miteinander-Reden über Dinge, die von den Studenten oder von mir angesprochen wurden.
Koepf: Gab es vielleicht historische Vorbilder? Ich denke da zum Beispiel an Platos Akademie, die ja nicht nur eine Lehrveranstaltung, sondern gleichzeitig auch eine Art Lebensgemeinschaft, eine Zusammenkunft gleichgesinnter Intellektueller war.
Fritsch: Das würde ich eher bejahen. Also der Gedanke, dass man als Gruppe eine bestimmte Gruppenidentität hat, ist mir nicht fremd. Und ich denke auch, dass die Projekte, die wir zusammen entwickelt haben, dies zum großen Teil auch widerspiegeln konnten. Natürlich, ich habe auch in der Zeit vor der Professur große Projekte gemacht wie zum Beispiel zu Schönbergs Moses und Aron oder zu Zimmermanns Die Soldaten, weil ich fand, dass es eben für die Studenten gut sei, sich damit zu beschäftigen. Danach haben wir solche Dinge zusammen entwickelt, ob es Scelsi war oder die aktuellen Theorien der Ästhetik, nicht nur der Musikästhetik. Das ging doch über mehrere Jahre, dass sich da so ein Club gegründet hat, der sich dann auch alleine weiter traf. Das war eigentlich eine für mich sehr positive Erfahrung, dass daraus so etwas gewachsen ist.
Koepf: Meinst du da die Freitagsrunde?
Fritsch: Ja.
Koepf: Die Freitagsrunde entstand ja in der Folge dieses dreisemestrigen Seminars zur Geschichte und Gegenwart der Ästhetik, das Stefan Sittner und ich entworfen hatten und dann im Rahmen deiner Seminarzeiten abhalten konnten. Das muss zwischen 1992 und 1994 gewesen sein. Und dann haben wir beschlossen, dieses Forum aus der Hochschule heraus zu verlagern und um verschiedene Leute zu erweitern, die in der Musikhochschule auch gar nicht aufgetaucht wären, so dass da neben Komponisten auch Literaten, Philosophen, bildende Künstler, Videokünstler, und so weiter dazu kamen, wodurch die Gruppe auch deutlich vergrößert wurde. Diese Runde hat dann noch viele Jahre weiter existiert. Du warst auch immer mal wieder dabei.
Fritsch: Ja. Das ist eine sehr gute Erinnerung für mich.
Koepf: War dieses Image des Elitären, das unserer Klasse anhaftete, deiner Meinung nach begründet? War es in gewisser Weise vielleicht auch beabsichtigt?
Fritsch: Also beabsichtigt würde ich nicht sagen. Und es war ja auch nicht elitär im eigentlichen Sinn. Denn Leute, wie zum Beispiel Andreas Wagner, der hat nie Examen gemacht. Der hat diese wunderbare Zwischenprüfung gemacht, wo die Kollegen mit seiner komplexen Partitur nichts anfangen konnten und gefragt haben, wie er das gemacht habe und er antwortete: Mit Tapeten. Dann, ob er es etwas genauer erklären könnte. Ja, mit Raufasertapeten. Also diese Methodik, den Zufall in das kompositorische Handwerk mit einzubeziehen, das war für Kagel und Krzysztof Meyer und erst recht für Henze völlig fremd.
Koepf: Für uns waren das Selbstverständlichkeiten, nachdem wir uns zwei, drei Semester mit der klassischen amerikanischen Avantgarde und deren Vorgeschichte seit Ives und dann mit dem Cage-Kreis, mit Feldman und Tudor und so weiter beschäftigt hatten. Wir waren vertraut mit diesen Techniken. Und obwohl das zu diesem Zeitpunkt vollkommen unpopulär war – wir waren ja auch die Einzigen, die diese Dinge an der Hochschule gepflegt und aufgeführt haben – waren sie doch längst Teil des geschichtlichen Kanons. So etwas konnte ja doch den Anschein des Elitären verursachen, auch wenn er, wie du ja sagtest, nicht beabsichtigt war.
Fritsch: Ja.
Koepf: War andererseits diese Einheit unserer Gruppe als die wir wahrgenommen wurden im Grunde nicht eine Täuschung? Denn tatsächlich ging ja jeder seine eigenen Wege, sowohl während als auch nach seiner Zeit in der Fritsch-Klasse.
Fritsch: Ja. Und das war mir auch wichtig! Also einen Fritsch-Stil zu entwickeln, das wäre ja furchtbar gewesen. So etwas habe ich gerne dem Kollegen Krzysztof Meyer überlassen, der das sicher versucht hat, ein gewisses handwerkliches Niveau zu erreichen und sich darin aber auch zu erschöpfen. Und diese Art der Erschöpfung, die war mir fremd. Die Verschiedenheit der einzelnen Individuen, die sich ja dann auch in ihrer Weiterentwicklung deutlich ablesen lässt, die war ja gerade der Reiz der Klasse, die mich auch immer wieder freudig jede Woche in die Hochschule gehen ließ.
Koepf: Später, nach meiner Zeit, hat sich wohl einiges an dieser Verfassung deiner Klasse geändert. Kannst du skizzieren, woran das lag und welche Form es dann annahm?
Fritsch: Also, es hat im Prinzip keine neue Form angenommen. Es waren nur zum Teil eben neue Inhalte, weil es andere Studenten waren, mit einer anderen Interessenlage. Ich glaube, das Hauptinteresse in der Zeit, in der du studiert hast, lag tatsächlich in einem durchreflektierten Denken über das, was man tut, wie man es tut und warum man es tut. Und nachher wurde das ein bisschen mehr: "Ich will eine Aufführung haben, ich habe ein neues Stück gemacht." Und es gab dann sogar diesen Typ des Unterrichts, dass ich etwas in einem Stück kritisiert habe und dann die Antwort kam: "Ja, so habe ich mir das aber ausgedacht und das Stück ist eben so." So eine gewisse Unfreundlichkeit gegenüber dem Diskutieren. Und das zeigt ja eigentlich nur, dass die Version, wie wir sie vorher geübt hatten, die bessere war.
Koepf: Sind vielleicht auch irgendwelche Voraussetzungen gesellschaftlicher, künstlerischer oder, ganz profan, hochschulpolitischer Natur im Laufe der Zeit einfach weggefallen? Oder war es einfach die Gunst der Stunde, eine Möglichkeit, die sich aus einer speziellen Konstellation ergab?
Fritsch: Es lag nur an den einzelnen jungen Komponisten, die die Klasse bevölkerten.
Koepf: Hat sich dieses Unterrichtskonzept von damals dennoch bewährt, obwohl es nicht überlebt hat?
Fritsch: Ja, das glaube ich schon. Und es hat ja in einer anderen Weise überlebt. Durch die, ich nenne sie einmal, Veteranen und durch die Gäste der Klasse, die ja jahrzehntelang dann weiter dazu gehört haben. Also Simon Rummel und Manfred Rücker als Gäste, waren ja ein Teil der Identität meiner Kompositionsklassenabende. Und ich fand das auch immer sehr schön, dass da Dinge stattfanden, die ja nicht unbedingt mit Bleistift und Notenpapier zusammenhingen.
Koepf: Was denkst du, wie viele Komponisten hast du in deiner Zeit an der Kölner Musikhochschule bis heute ungefähr ausgebildet?
Fritsch: Keine Ahnung. Das müsste man in irgendwelchen Studentenverzeichnissen nachschlagen. Vielleicht zwanzig.
Koepf: Oh, da wäre ich von einer viel höheren Zahl ausgegangen.
Fritsch: Es gibt sicherlich mehr, die in der Klasse waren. Aber einige davon sind eher handwerklich geblieben, also gehören nicht zu denen, wo ich stolz bin zu sagen: Das ist mein Schüler. Das sind höchstens zwanzig.
Koepf: Wie würdest du im Rückblick deine Arbeit als Kompositionslehrer bewerten? In welchem Verhältnis steht sie zu deinem künstlerischen Werk?
Fritsch: Das hat schon miteinander zu tun. Das heißt, ich habe schon versucht, durch den Kontakt mit meinen Stücken, den ich den Studierenden vermittelt habe, Einfluss zu nehmen, würde ich mal sagen, versucht, ein vernünftiges Denken und Hören auf die eigene und andere Musik zu entwickeln, das auch hinter die Oberfläche des Klangs reicht. So wie ich auch sage, der Inhalt der Musik ist wichtig und der ist in der Form zwar manchmal zu erkennen, aber häufig muss man auch ein bisschen daran herumanalysieren, bis man dahin kommt. Und das ist etwas, das in meinem Werk wesentlich ist und in meinem Unterricht vielleicht auch schon manchmal durchscheinen konnte.
Koepf: Gab es auch umgekehrt ein für dich fruchtbares Feedback?
Fritsch: Ja. Also ich habe viel von meinen Studenten gelernt, sowohl was das Materialdenken, als auch was die formale Bewältigung und die inhaltliche Dimension angeht.
Koepf: Kürzlich fand ich auf einer Internetseite der Stuttgarter Musikhochschule ein Statement von Caspar Johannes Walter zu seinem Kompositionsunterricht: "Einmal pro Woche sprechen wir alle zusammen über verschiedene Kompositionen und Themen. Das ist eine gute Übung für die Studierenden, ihre Arbeit zu reflektieren". Kommt dir das irgendwie bekannt vor?
Fritsch: Ja. Das, denke ich, ist bei mir auch so gewesen. Da ist der Caspar Johannes Walter ein braver Schüler.
Koepf: Auch ich habe wichtige Elemente deines Konzepts und unserer gemeinsamen Zeit für meinen Kompositionsunterricht übernommen. Es lebt also auch in dieser Form weiter.
Fritsch: So werden also dann irgendwann Enkelschüler von mir die Welt bevölkern.
Koepf: Bestimmte Merkmale dieser Art des Zusammenarbeitens scheinen irgendwie zeitlos zu sein. Sie fühlen sich heute noch so cool an wie damals.
Fritsch: Ja. Damit bin ich auch zufrieden. Genau so cool wie damals.
Johannes Fritschs Lehrtätigkeiten seit 1965
1965-1970: Lehrer für Musiktheorie an der Rheinischen Musikschule, dem Konservatorium der Stadt Köln
1971-1984: Leiter einer Kompositionsklasse und des Seminars für Neue Musik an der Akademie für Tonkunst in Darmstadt
1971-1984: Lehrauftrag für Allgemeine Harmonik und Medienästhetik an der Musikhochschule Köln
1974, 1984 und 1986: Dozent bei den Internationalen Ferienkursen für Neue Musik in Darmstadt
Seit 1984: Professor für Komposition an der Staatlichen Hochschule für Musik Köln
Erschienen in: MusikTexte, Heft 122, 2009.